signalraum – nowitz

 
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Über das Erweitern und Extrahieren der Stimme

Ein Versuch zur Ergründung des Wesens der Kunststimme im Kontext zeitgenössischer Vokalperformance

von  Alex Nowitz


„Gibt der Sänger und/oder Stimmkünstler längere Zeit nichts Künstlerisches mehr von sich, dann liegt wohl etwas im Argen. Womöglich trocknet er gerade aus, verliert den Kontakt zum Kern seines Selbst. Er stellt fest, dass sein Leben knöchrig wird, starr, ohne Fluss und Eingebung. Die Wüste wächst. Singen und andere kunstfertige Veräußerungen der Stimme sind übersteigerte Formen der Präsentation des Ichs anderen gegenüber. Der Stimmkünstler hält diese für eine, seine Lebensnotwendigkeit.


Die Stimme, das Sing- und Sprachrohr des Ichs, will jeden Tag aufs Neue erkundet werden. Sie will in Schwingungen versetzt werden, in Obertönen baden und sich vergewissern, dass ihr Besitzer auf dem richtigen Weg ist. Ihre Lernbegierde ist beispiellos, schließlich will sie beständig Neues dazulernen. Einmal ermüdet und erschöpft, regeneriert sie sich in der Regel auch rasch von selbst. Sie will sich erneuern und fortsetzen, erweitern, verlängern und vervielfältigen. Womöglich will sie sich selbst übertreffen und sich selbst übersteigen. Diese emphatischen Absichtserklärungen der Kunststimme bilden tatsächlich aber die Voraussetzungen für die Anwendung der sog. erweiterten Stimmtechniken (extended voice techniques). Die Motivation darüber, warum der Stimmkünstler den Weg der Erkundung aller denkbarer Stimmveräußerungen beschreitet, wird oftmals gerne dadurch erklärt, dass er dem Drang nachgehe, neuen Klängen aufzuspüren. Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass er in den meisten Fällen ein gehöriges Risiko eingeht, wenn er versucht, das zu finden, was zum Zeitpunkt vor seiner Entdeckung für ihn selbst noch völlig unbekannt und ungeahnt im Dunkeln verborgen liegt. Die Reise, die der Sänger mit der Anwendung erweiterter Stimmtechniken (ex-tend) und den damit verbundenen Ausdrucksspektren antritt, geht für ihn demnach – so paradox es klingen mag – zunächst nach Innen (in-side), bevor er das Gefundene tatsächlich nach Außen tragen kann (e-motion).




All dies habe ich im Laufe meiner Auseinandersetzung mit der Gesamtheit des Themas der Kunststimme erfahren und durchlebt. Auf Einladung von STEIM in Amsterdam (STudio for Electro-Instrumental Music) fing ich zudem an, mich mit Live-Elektronik zu beschäftigen und damit zu experimentieren. So habe ich verschiedene Erweiterungs- und Fortsetzungsmöglichkeiten der Stimme auf elektronischer Ebene und mit Hilfe gestengesteuerter Fernbedienungen (gestural controllers), also unter Einsatz von Hand-, Arm- und Körperbewegungen, untersucht und angewandt. Das Spiel mit den stimmlichen Ausgangsklängen wird mittels der Körperextremitäten und des Computers fortgeführt. Gelingt es dem Sängerperformer, diesen Akt der Klangerzeugung und -bearbeitung visuell und auditiv deutlich werden zu lassen und für das Publikum nachvollziehbar zu gestalten, so ereignet sich dabei folgende interessante Begebenheit: Die Maschine, also der fern gesteuerte Computer, wird mit neuem Stimmmaterial gefüttert, wobei dieses augenblicklich anhand der Gestural Controllers bearbeitet und abgespielt wird. Es entstehen abstrakte Stimmklanggebilde, die aus konkretem Stimmmaterial geformt wurden. Beide Klangbereiche, die der natürlichen und jene der herausgezogenen Stimme, durchmischen sich. Die Rasanz, mit der sich diese Methode der Klangerzeugung und -bearbeitung anwenden lässt, mag den Hörer im besten Fall verführen, gleichzeitig wird es ihn wohl auch verwirren, weil es ihm nicht mehr eindeutig gelingt, die Herkunft des Gehörten klar zuzuschreiben. Die Klanggestaltung und -kontrolle des Ausgangsmaterials, der natürlichen, gerade eben präsentierten Stimme, führt zu einer Erweiterung auf Grundlage ihrer Selbst. Das Klangvokabular der Stimme vergrößert sich, die Stimme wird erweitert. Gleichzeitig vollzieht sich eine Entkörperlichung. Selbst wenn sie durch die Körperextremitäten weiterführend kontrolliert wird, so wird die Stimme doch aus ihrem eigentlichen Selbst herausgezogen, also extrahiert. Während dieses Vorgangs verliert sie scheinbar die Kraft ihrer Unmittelbarkeit. Sie rückt gleichermaßen von uns weg. Diese künstlich erzeugte Distanz ist während der Performance natürlich ein willkommenes Stilmittel, das es erlaubt, die herausgezogene Stimme (oder das Resultat aller bisher herausgezogenen Stimmen) der natürlichen Stimme erneut gegenüberzustellen, wodurch ein weiteres Spannungsfeld aufgebaut wird.


Die klangästhetische Aufweichung, die sich in diesem Prozess zwischen den Polen, Mensch und Maschine, vollzieht, entfesselt eine Kraft, bei der sich beide Bereiche in einem Maße durchdringen, so dass - ausgehend von einem einzigen Stimmapparat – zahlreiche Stimmen generiert und nebeneinander und/oder übereinander gestellt werden und in der Summe ihrer Erscheinungsformen ein komplexes und multiples Bühnen-Ich bilden.“


Alex Nowitz am 20.2.2014



Anlass des Essays ist die Soloperformance "Extended and Extracted", für einen Sängerperformer und Live-Elektronik von und mit Alex Nowitz innerhalb des Festivals „V01CES“ am 9.4.2014 im Signalraum München, initiiert von Horst Konietzny.



Alex Nowitz studierte Musik in München, Berlin, Potsdam (USA) und Potsdam (Deutschland). Er ist Komponist von Vokal- und Kammermusik, elektroakustischer Musik und Werken für Musik-, Tanz- und Sprechtheater. Außerdem ist er Sänger, Pfeif- und Stimmkünstler, der über ein breites Spektrum an erweiterten Stimmtechniken verfügt, die weit über das rein klassische Idiom hinausgehen. Alex Nowitz ist Countertenor, der die Tenorstimme in Deutschland und USA studierte. Er hat Soloprogramme vor allem für Stimme und Live-Elektronik entwickelt, die er auf internationalen Festivals für Neue Musik präsentiert.

Er erhielt zahlreiche Kompositionsaufträge von Institutionen und Ensembles, wie z.B. dem Staatstheater Braunschweig, Staatsoper unter den Linden Berlin, Theater Osnabrück, Schaubühne Berlin.

Alex Nowitz war von 2007 bis 2011 Artist-in-Residence am STEIM in Amsterdam, wo er zwei live-elektronische Instrumente entwickelte: den Stimmflieger (2 Wii-Controller) und das Strophonion.

 
Alex Nowitz
© Frank Baldé /STEIM ▶